Laudatio für die Eröffnung der Ausstellung »Frühstück an der Mauer und die STASI war dabei –
Von Sichtbarem und Unsichtbarem«
in der NEUE GALERIE des Landkreises Teltow-Fläming
Verehrte Damen und Herren,
Frau Dr. Nooke, Herr Haetge, liebe Linde Kauert,
als ich vor einigen Monaten gefragt wurde, ob ich am heutigen Tage aus Anlass dieser Ausstellungseröffnung reden könne, konnte ich weder JA noch NEIN sagen. Linde, ich kannte Dich und Dein Werk nicht. Und darüber hinaus: Was die Abkürzung STASI in mir auslöste, wollte ich ganz bewusst nicht zum Anlass einer Absage werden lassen.
Ob ich, aus damaliger Sicht, heute hier stehen würde oder nicht, sollte ein Besuch bei Dir im Atelier entscheiden. Ich wollte Deine Arbeiten sehen, sie kennenlernen. Ich wollte ihre Wirkung spüren, einen Zugang finden. Linde, den Raum dazu und die Zeit dafür hast Du mir gewährt, als Du mich in Deiner achtsam-freundlichen Art in Deinem Atelier empfangen hast. Danke!
Und meine Damen und Herren, Sie sehen mich hier heute stehen. Linde, du hattest eine Atelier-Ausstellung vorbereitet, führtest mich und ich war tief beeindruckt. Was ich sah, hatte ich nicht erwartet: Leuchtende Farbigkeit der Malerei, flirrende, oszillierende Striche auf den Zeichnungen, mit Gefasstheit gesetztes Schwarz und Rot und Grau in den Radierungen. Und: Figuren. Immer wieder Figuren, einzelne, Gruppen. Mir war schlagartig klar: Hier geht es um was! Zu meinen ersten Eindrücken gehörte die Erkenntnis, dass hier jemand ringt, mit sich, mit der Welt. Das ihr alles lösende Ausdrucksmittel ist für Linde Kauert – das Bild. Und Linde Kauert verfügt über ihr Handwerkszeug. Meine Damen und Herren, ich sage das hier sehr bewusst, da in unserer Kulturlandschaft der Stellenwert der handwerklich-künstlerischen Voraussetzungen für das kreative, das künstlerische Arbeiten mehr und mehr abnimmt.
Hier jedoch wird jede Technik und jedes Format souverän beherrscht. Mit Linie und Fleck, mit Farbe und Kontur, mit Fläche und Raum, mit Komposition und Reduktion, mit Fantasie und Anatomie wird hier gleichsam spielend jede Bildgebung gefunden, ertastet und ja, davon sprachst Du, Linde, auch, manchmal nicht stehen gelassen, sondern es wird verändert und weitergearbeitet. Wer sich auf Deiner Homepage informiert, wird das Wort ‚erforschen‘ finden. Und ja, meine Damen und Herren, hier wird, oberflächlich gesehen, gestaltet, Form gegeben. Doch genau genommen wird hier in der eigenen Lebenserfahrung Wirkendes gefunden und gezeigt, wird im Rückblick wie in der Umschau in der Gegenwart Wirkliches entdeckt, wird Bild für Bild erreicht, ertastet, erarbeitet wie ein Forschungsergebnis.
Doch was ist es, welches ist das Ergebnis, was fassen diese Bilder? Ich sehe viel Unterschiedliches, deutlich Verschiedenes. Einen möglichen erklärenden Rahmen geben vielleicht die beiden Radierungen GESELLSCHAFT, 2023, und DIE GANZE KLAVIATUR, 2022. Doch das ist unspezifisch, ungenau.
Linde Kauert hat hier Gelegenheit, eine große Einzelausstellung zu zeigen. Unterstellen wir also ein pars pro toto, dass also jedes Bild, trotz und wegen der scheinbar unüberschaubaren Vielfalt und Verschiedenheit für das Ganze spricht. Geht es also um DIE WELT IST ZUM HEULEN, 2011, oder um dieses IMMER NOCH IMMER, 2011? Zu beiden Bildern – hier im Raum – wurde Linde Kauert angeregt von Texten von Barbara Thalheim. In allen Phasen ihres Schaffens wurde sie von Prosa oder Lyrik angeregt zu ihrer künstlerischen Arbeit. Diesen besonderen Aspekt zu betrachten, muss ich mir hier heute versagen.
Zurück zum Befragen der Bilder nach dem Prinzip pars pro toto: Erfassen Bilder, die Sie im ersten Raum dieser Ausstellung sehen können, KONTROLLE, 2015, oder DAZWISCHEN, 2017, das Wesentliche des hier Gezeigten? JA und Nein. Was ist mit diesem Bild? FAMILIE, 2018, eine Betrachtung der Urzelle allen gesellschaftlichen Lebens, in allen Kulturen?
Ich finde einen starken Verweis in dem Bild GRENZE UNÜBERWINDBAR, 2008. Überdeutlich ist das Auseinandergerückt-Sein der Gruppe durch die Grenze, gezeigt in der Nichtfarbe Weiß, die gleißende Summation aller Farben. Wir sehen das Hineinragen einzelner Figuren in diesen Bereich, vielleicht ein Attackieren, letztlich aber das Nichtüberwinden des Trennenden. Den meisten Ex-DDR-Bürgern und darüber hinaus allen bewusst durchs Leben gehenden Zeitgenossen steht aus ihrer Erinnerung sofort eine konkrete Grenze vor Augen, die innerdeutsche, die territorial und kulturell weit mehr spaltete und trennte als die Staaten DDR und BRD.
Diese Grenze und ihre Wahrnehmung waren täglich Themen und sind schwer lastende Traumata nicht nur der Bürger der DDR, ihrer Gesellschaft und ihres Staates. So mancher DDR-Bürger stellte sich die Frage ABHAUEN?, 2021, und stand gefühlt bereits bei der Fragestellung mit einem Fuß im Gefängnis. Das Bild verweist darauf sehr deutlich. Viele entschieden sich und waren dann HIERGEBLIEBEN, doch innerlich so zerrissen und eines Tages auch vernarbt, wie diese Radierung von 2021 uns erkennen lässt, und sie waren und fühlten sich GEFANGEN IM NETZ, 2021.
Diesem Gefangen-Sein hat Linde Kauert mit der Arbeit GEFANGEN, 2024, ein klares und markantes Aussehen gegeben – ein ‚verstacheldrahtetes‘ Gesicht. Gemeinsam mit den Blättern TRAUM VOM FLIEGEN, 2024, SCHUTZGEISTER, 2023, und MAULKORB, 2023, zeigt es das innere Pulsieren dieses Gefangen-Seins, seinen Rhythmus und dessen weitgreifende Verletzungen und Hoffnungen. Linde Kauert zeigt sich und uns mit diesen Bildern die Antwort auf ihre Frage, was mit einzelnen Menschen unter einem enormen politisch-ideologischen Druck geschieht. Und ist es nicht die politischen Zeiten übergreifend, wenn sie konstatiert: ALLE IN EINEM BOOT, 2016? Dennoch bleibt die Künstlerin hier gedanklich wie emotional nicht stehen, gibt sich nicht zufrieden. In ihrer Methodik beobachtet und forscht sie weiter und erreicht neue Bilder.
Sie sehen mehrere andere porträthafte Arbeiten. Das Blatt GEBET, 2019, zeugt von innerem Ringen. Die Arbeit BEWUSSTSEINS-NEBEL, 2024, vergegenwärtigt die erschreckende Einsicht, wie stark eigenes Beobachten und Ausdrücken von außen getrübt sein können. Zusammen vermitteln mir diese Arbeiten das Unsichtbare, auf das der Untertitel der Ausstellung verweist. Es ist die schwer zu erarbeitende Kraft aufzubrechen aus der erkannten Situation, das Entdecken und das Entwickeln eines wirklich eigenen LEBENSFANDENs. Das für mich zentrale Blatt der Arbeiten ROTER FADEN I – V, 2020, zeigt ein fast kreisförmiges, jugendlich offenes Gesicht vor undurchdringbar scheinendem Schwarz, umgeben nicht etwa von roten Haaren, sondern von einem möglich zu erarbeitenden, in Zeit und Raum zu entfaltenden Lebensweg, einem pulsierenden LEBENSFADEN eben.
Meine Damen und Herren, der Nebel in NEBEL DES BEWUSSTSEINS ist, wie diese Grenzdarstellung hier im Raum, in Weiß gezeigt, durchscheinend zwar doch in dieser „Unfarbe“. Und dieser Nebel umfasst den naturgewachsenen Schädel nicht nur, sondern scheint sich auf ihn zuzubewegen, sich zu verdichten. Klar, das ist kein Wiesen-Nebel, der hier gezeigt wird, sondern ein menschengemachter, medial zusammengehalten von seinen Bestandteilen: Richtigem und Falschem, Wissen, Halbwissen und Fake News, Ideologien und Theorien, vielen Meinungen und wenigen Standpunkten, alles dicht ineinandergeschoben und temperiert bis zur Unkennbarkeit und geeignet für jede Art von Verwirrung. Das angedeutete Quadrat mit der angenommenen Bewegung, gibt es in unserer sichtbaren Natur gar nicht, es ist die Konstruktion eines Ideals, steht hier für das Überstülpen des Einzelnen mit o.g. Mitteln zu seiner Unterminierung und Dekonstruktion.
Meine Damen und Herren, diese Ausstellung gibt mir eine ganze Reihe von derartigen Anregungen und Eindrücken, für die hier leider nicht der Platz ist. Doch ich lese diese Ausstellung als bildreichen Beleg für das Begreifen sich stetig ändernder bedrückender wie bestätigender Lebenssituationen und den vielgestaltigen, immer wieder begonnenen Aufbruch aus diesen dynamischen Umständen. Die Bilder sind Belege für Linde Kauerts Lebensgang. Und sie sind deutlich mehr, weisen weit über das unmittelbar Konkrete ihrer Biografie hinaus, zeigen die betrachteten und durchforschten Situationen und Wege auf bei unser aller ‚fortwährenden Versuchen, mit Gewalten zu leben‘, wie Volker Braun formuliert.
Denn, meine Damen und Herren, Linde Kauert scheint mit Selbstbetrachtung nicht zufrieden. Sie geht weiter als bis zum Begreifen einer Selbstverpflichtung, die persönlich formuliert, jedoch nur in einem sozial strukturierten Raum einlösbar ist. Linde Kauert bedenkt und erforscht mit ihren Mitteln diesen Rahmen individuellen Auf- und Ausbrechens, den immer vorhandenen sozialen Kontext. Und hier habe ich den Punkt gefunden, an dem ich damals im Atelier gesagt habe: Ja, ich stelle mich da in die Vernissage und sage was zu diesen Bildern, zu der Arbeit dieser Künstlerin.
In der Bildfolge „Die unsichtbare Dimension“ gibt es zwei Arbeiten, deren Bezug aufeinander mich bei dem erwähnten Atelierbesuch überzeugt hat. Das eine nannte sie damals FERTIG FÜR’S LEBEN. Diese Arbeit finden Sie hier mit dem Titel BEREIT FÜR DIE WELT, 2021. Das andere Bild trägt den Titel UNSICHTBARE DIMENSION, 2020. Bei der ersten Verständigung hatte Linde Kauert dieses Bild WASSERWESEN betitelt.
FERTIG FÜR‘S LEBEN zeigt ein Kind, bereit, neugierig und mutig sich in die Gesellschaft zu integrieren, in seine Zukunft zu gehen, was im Idealfall gleichzeitig ein Aufnehmen durch die Gesellschaft, ein Aufgehen in ihr ist. Das Bild erfasst die einfache wie die erweiterte Reproduktion der menschlichen Gesellschaft und berührt genau genommen die Selbsterhaltung jeder auf der Welt lebenden sozial organisierten Gattung. Unter einem Elektronenmikroskop erkennen wir nichts anderes, wenn wir z.B. Algen betrachten, diese WASSERWESEN, die sich in vollständig vergleichbaren funktionalen Grundzügen individuell wie gemeinschaftlich reproduzieren.
Es geht um Individualität und deren Anteil an vielen Arten des Zusammenhaltens und -wirkens aus mannigfaltigen Impulsen heraus. Ein Biologe betrachtet die funktionalen Zusammenhänge in Gemeinschaften, in denen die vielen Individualitäten und ihre Kraft gebraucht und aufgehoben werden in einem zukunftsträchtigen Gleichgewichtszustand von Einzelnem und Gemeinschaftlichem.
Dieses mit der Hilfe von Naturwissenschaftlern blickerweiternde, künstlerisch-forschende Vorgehen von Linde Kauert erscheint mir außerordentlich. Denkt man das wissenschaftliche und das künstlerische Betrachten von konkreten Gesellschaften zusammen, egal ob die aus Homo sapiens oder Algen bestehen, so hat man als Forschungsgegenstand sozial organisierte Materie vor sich. So nüchtern gesehen besteht die Möglichkeit, nach notwendig Funktionalem im Zusammenleben von Einzelnen in Gemeinschaften zu fragen, und dabei die in menschlichen Gesellschaften historisch gewachsenen Bedingungen und kulturell ausgeformten, politisch-ideologischen Muster als das anzusehen, was sie sind: nicht nur historisch Faktisches, sondern historisch konkretes Mögliches. Realität hätte anders ausgestaltet werden können, das Zusammenleben, eine Gesellschaft birgt jederzeit mehr mögliche Strukturen in sich, als zumeist angenommen wird.
Mit Blick auf den Ausstellungstitel hieße das: Ein wiederholtes Frühstücken an der Mauer hätte ohne die Anwesenheit des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, die STASI, stattfinden können, wenn man so weit gehen will, sogar müssen. Doch solches wurde gezielt verhindert.
Greift man jedoch dieses Beobachtungsergebnis ernsthaft auf, erreicht man die Frage: Wie sind Gesellschaften, wie ist das Zusammenleben vieler verschiedener Einzelner zu gestalten und zu organisieren, ohne zu bespitzeln und zu denunzieren, politisch zu verfolgen und zu entrechten, physisch und psychisch zu brechen oder gar zu vernichten? Wirken nicht die vielen verschiedenen Einzelnen mit dem Entwickeln ihres ureigenen Lebensfadens für die Gesellschaft, in der sie leben, stabilisierend und bereichernd?
Auf diese Fragen führen mich zwei weitere Arbeiten in dieser Ausstellung. Da ist das große Blatt ER HAT ALLES IN DER HAND, 2021. Hier zeigt Linde Kauert individuelles, subjektives Handeln. Dieser ER, gezeigt als weiße, klar konturierte Figur, kann, ja, ER kann als Versinnbildlichung Gottes betrachtet werden. Aber ER kann ebenso als ein einzelnes menschliches, konkretes Individuum verstanden werden, Frau oder Mann, oder als ein anderes wirkendes Subjekt wie ein Staat oder eine Staatengemeinschaft wie Europa, eine Dorf- oder Stadtgemeinschaft, sogar als die gesamte Gattung Homo sapiens. Sie handelt. Sie hat vieles in der Hand und bewirkt dabei als Gemeinschaft weltweit die Verschmutzung und die Ausbeutung der Erde und hat Anteil an der Veränderung des Ökosystems. Jeder dieser möglichen Akteure hat sich und seine Verschiedenheiten und Potenzen zusammengefasst, das zeigt uns Linde Kauert in dem angereicherten Quadratischen, und kann diese hinter sich schleudern, zurück in die durchlebte, vergehende Nacht, oder in den begonnenen Tag, die noch offene und lichte Zukunft. Wir haben ein Sinnbild zum Sinnen vor uns.
Die Arbeit daneben, auch sie ist 2021 entstanden, eröffnet den Gedanken, dass es bei all dem historisch bedeutsamen Handeln wahrscheinlich völlig egal ist, WAS WIR ZEIGEN UND VERSTECKEN, wenn wir nur vermögen, uns zu halten, uns zu erhalten auf den Schrägen, auf dem schwankenden Boden, den wir uns selbst bedenkenlos bereiten zwischen ausreizbaren Möglichkeiten und vernachlässigten Notwendigkeiten.
Das Leuchten der Farben, das Oszillieren der Linien und die Härte der Druckgrafiken von Linde Kauert umkreisen gewichtige Fragen, denen nicht mehr auszuweichen ist. Nach meinen Beobachtungen und Überlegungen habe ich beim wiederholten Betrachten der Bilder dieser Ausstellung in ihnen bislang noch nicht entdeckte Schärfen aber auch Milde gesehen. Darüber hinaus habe ich entdeckt, dass Linde Kauert bereits mit TRUBULENZEN, 2022, und den beiden Arbeiten aus dem Jahr 2017, IM STRUDEL und LICHTVOLLE ZIRKULATIONEN die fundamental verschiedenen Betrachtungsmöglichkeiten ein und desselben Lebensphänomens erprobte.
Meine Damen und Herren, die bedrückenden Erfahrungen im Herkunftsland über bildkünstlerische Arbeit für sich derart aufzuheben, dass sie anregen, heutige mittelbare wie unmittelbare gesellschaftliche Verwerfungen und Chancen, Möglichkeiten souverän anzusehen und anzugehen, darin sehe ich eine außerordentliche Leistung der Malerin, Zeichnerin und Grafikerin Linde Kauert.
Linde, Danke für Deine Bilder!
Meine Damen und Herren, ich wünsche uns jetzt und künftig anregende Gespräche und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
7. September 2024 / Alexander Bandilla